1. Mai 1936 – 15. September 2007.
Aufgenommen am 31. Oktober 2001 in Corcelles-le-Jorat.
Jean Balissat – Association Films Plans-Fixes
> Zuerst hatte Jean Balissat Wagenführer bei den Trams du Jorat werden wollen. Die Schienen hatten es ihm angetan. Er studierte die Märklin-Kataloge und träumte sich in ein kompliziertes Netz. Doch dann kam die Begegnung mit einem noch komplizierteren Netz: Beethovens 7. Sinfonie. Um sich von ihr Tonaufnahme und Partitur anschaffen zu können, verkaufte der Junge mit 13 Jahren die Modelleisenbahn und legte die Weiche um. Das Signal zeigte nun vom Bahn- ins Musik- und Kompositionswesen. <
Im Jahr, wo die „Plans Fixes“ zu ihm ins Haus kommen, hat Jean Balissat die Altersgrenze erreicht und die Tätigkeit als Kompositionslehrer an den Konservatorien von Lausanne und Genf aufgegeben. Nun wird er vor einer Glaswand gefilmt, hinter der auf gut dreissig Metern übereinandergestapelter Märklinschienen ein Teil seiner Lokomotiven und Wagen aufbewahrt wird. Als Komponist und Dirigent hat er die Träume der Kindheit eingeholt und ins Erwachsenenleben geflochten.
Stolz erklärt Jean Balissat, er sei gleichzeitig Lokomotivführer, Ingenieur, Bahnleitstelle und Fahrplanentwickler. Die komplizierte Anlage mit Steigungen, Kreuzungen, Bahnhöfen, Übergängen und verschiedenen, gleichzeitig fahrenden Zugskompositionen betreibt er im Dachgeschoss. Gegen den Unterton, den sein Gesprächspartner Jean-Pierre Amann anschlägt, wehrt er sich: „Spielen ist eine seriöse Sache!“ Leute, wie das Spielen nicht ernstnehmen können, nimmt Jean Balissat seinerseits nicht ernst. Sie negieren in der Tat die Bedeutung der darstellenden Künste, wo nichts anderes geschieht, als dass Erwachsene ernsthaft zusammen spielen.
Plötzlich wusste er, dass hier die Stätte des grössten Glückes war, das er je im Leben empfunden: mit der neuen Eisenbahn, dem einzigen kostbaren Spielzeug seiner ganzen Kindheit. Sorglich bewahrt. Bis heute. Er besass sie noch, in ihrer schönen mächtigen Schachtel.
Er hatte sich in den Weihnachtstagen ins Schlafzimmer seiner Eltern damit zurückziehen dürfen, um ungestört zu spielen. Der Schienenkreis war um einen Bettfuss herumgegangen, und der Zug immer wieder im Dunkel verschwunden und daraus hervorgekommen. Ganz wie die Wiener Stadtbahn mit ihren Tunnels.
Es gab also das Glück.
In der Niedergeschlagenheit kommt es zur Wiederentdeckung des Glücks. Heimito von Doderer hat eine Romanfigur in ihre Kindheitswohnung zurückgeführt, wo selige Vergangenheit aufbewahrt blieb, und jetzt wird sie reaktiviert:
Er ging in seine Schlafkammer und holte, gleich mit dem ersten Griff, die Eisenbahn unter dem Bett hervor.
Es waren weit mehr Schienen vorhanden, als er in Erinnerung behalten hatte, und demnach, so dachte er, wird es nicht nur so ein kleiner Kreis um den freistehenden Bettfuss vom einen Ehebett gewesen sein, die eine Hälfte draussen und die andere unterm Bett: sondern es hat die Strecke weiter nach rückwärts in die Dunkelheit unter dem Bett hineingeführt. Der Zug ist also länger dort hinten gefahren, und dann erst wieder auf dem Geleise hervorgekommen.
Er führte die silbrig glänzenden Schienen auf dem Parkettboden zusammen, kundig die Häkchen zwischen je zwei Stücken in ihre Schlitze schiebend. Bei dieser Beschäftigung musste er freilich knien. Es ergab sich ein beträchtliches Oval, sicher von der Länge eines Bettes, und mit zwei geraden Strecken. Nun stellte er Waggons auf die Gleise. Es waren vier: ein Postwagen und drei langgestreckte für Personen. Schubste man sie leicht, dann rollten sie weich auf den Schienen dahin, mit einem rieselnden Ton. Die Lokomotive und der Tender waren schwer. Er hob beides vorsichtig aus dem Fache. Hier lag auch der grosse Schlüssel zum Aufziehen des Uhrwerks.
Er tat das mit Vorsicht, als der ganze Zug zusammengekuppelt war.
Aus dem gedrungen Rauchfang der Schnellzugs-Maschine ragte ein Wattebausch, weiss und unverstaubt, wirklich wie ein ausgestossener Dampfballen. Er sah das, während er den Uhrwerks-Schlüssel drehte. Und damit erst fiel wie ein geschlossener Block jenes Schlafzimmer in der Adamsgasse herüber und herein in diesen Raum, und der Knabe, der dort neben der kleinen Eisenbahn gekniet war, ganz mit ihm zusammen.
Er zog auf der einen Seite des Führerhauses den kleinen Nickelknopf, der das Uhrwerk der Lokomotive freigab.
Die kleine Eisenbahn fuhr, immer wieder aufgezogen. Sie fuhr nicht nur auf der Ebene dieses Parkettbodens, sondern wie in Spiralen allmählich tiefer in die Bräune des Vergangenen, und sie stieg in Spiralen und kreiste jetzt wieder auf dem Parkett.
Wie Linien, die sich kreuzen und verschiedene Menschen, Schicksale und Zeiten miteinander verbinden, hat Heimito von Doderer die Erzählverläufe seines Romans auf einem graphischen Fahrplan festgehalten. Gefühlslage und Ausdruck der einzelnen Stellen sind durch Farbschraffierungen angegeben. Nun kommt das Werk durchs Schreiben in Gang. Ständig liegt das kompositorische Vorbild daneben: Es ist die Partitur von Beethovens siebter Sinfonie. Ihr zu Ehren nennt der Autor die Erzählung: „Roman No 7. Die Wasserfälle von Slunj.“
Gleich, sowie der Spieltrieb sich regt, der am Scheine Gefallen findet, wird ihm auch der nachahmende Bildungstrieb folgen, der den Schein als etwas Selbständiges behandelt. Sobald der Mensch einmal so weit gekommen ist, den Schein von der Wirklichkeit, die Form von dem Körper zu unterscheiden, so ist er auch imstande, sie von ihm abzusondern; denn das hat er schon getan, indem er sie unterscheidet.
Da alles wirkliche Dasein von der Natur, als einer fremden Macht, Schein aber ursprünglich von dem Menschen, als vorstellendem Subjekte, sich herschreibt, so bedient er sich bloss seines absoluten Eigentumsrechts, wenn er den Schein von dem Wesen zurücknimmt und mit demselben nach eignen Gesetzen schaltet. Mit ungebundener Freiheit kann er, was die Natur trennte, zusammenfügen, sobald er es nur irgend zusammen denken kann, und trennen, was die Natur verknüpfte, sobald er es nur in seinem Verstande absondern kann. Nichts darf ihm hier heilig sein als sein eigenes Gesetz.
(Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen.)
In seinem Haus in Corcelles-le-Jorat neben der früheren Endstation der Tramlinie schuf Jean Balissat seine Kompositionen, und dazu holte er Kraft aus der Beschäftigung mit der Eisenbahn, seinem Kindheitstraum. Das geschah im letzten Jahrhundert. Heute bewegt sich ein Geistesverwandter von ihm in der Luft: Daniel Harding. Während seiner Zeit als Chefdirigent des Orchestre de Paris erwarb er das Flugbrevet, und jetzt arbeitet er seit 2021 abwechselnd am Pult grosser Orchester und im Cockpit der Flugzeuge von Air France.
Auf diese Weise erscheinen die Bahn- und Fluglinien als Metaphern des Lebens. Und Menschen, denen es gegeben ist, das eine im andern zu sehen, werden zu Schöpfern. Für die andern gilt Georg Christoph Lichtenbergs Beobachtung:
Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht.
***
Wenn nun aber auch neben Jean Ballissats Haus die Endstation der Trams du Jorat im Jahr seines Einzugs in Corcelles 1963 aufgegeben wurde, kreuzen sich dafür bei ihm verschiedene Stränge der „Plans Fixes“:
1954 tritt er mit 18 Jahren am Genfer Konservatorium in den Unterricht von > André-François Marescotti ein.
1956 kommen seine beiden ersten Werke an die Öffentlichkeit. Die Pianistin > Denise Bidal bringt sie in ihrer Konzertreihe für junge Komponisten zur Uraufführung.
1969 wird Balissat von Oberstdivionär > Eugène-Pierre Dénéréaz beauftragt, ein Libretto für den Gründungsakt der Offiziersvereinigung „Semper Fidelis“ zu vertonen.
1971 kommt die Kantate durch > André Charlet zum Erklingen. Sie führt zum Auftrag für die Fête des Vignerons.
1975 wird Balissats Kollege > Eric Gaudibert Leiter der Kompositionsklasse am Genfer Konservatorium.
1977 sind am Winzerfest von Vevey Komposition und musikalische Leitung in Jean Balissats Hand vereinigt. Unter den 4’250 Schauspielern und Statisten wirkt > Franços Margot mit, der Präsident des übernächsten Winzerfests 2019.
1978 orchestriert Jean Balissat nach Diktat des gelähmten > Constantin Regamey dessen letzte Komposition.
1991 übernimmt Balissat von > Julien-François Zbinden das Präsidium der Schweizerischen Gesellschaft für die Rechte der Urheber musikalischer Werke (SUISA).