Maurice Chappaz: Schriftsteller.

21. Dezember 1916 – 15. Januar 2009.

 

Aufgenommen am 8. November 1979 in Le Châble.

Maurice Chappaz – Association Films Plans-Fixes

 

> Üblicherweise dauern die Porträts der „Plans Fixes“ – der Länge der Filmrollen geschuldet – 55 Minuten. Das Gespräch mit Maurice Chappaz jedoch wird bereits nach einer halben Stunde beendet. Trotzdem hinterlässt es einen tief haftenden Eindruck. „Mit ihm, mit der merkwürdigen Frische, die von ihm ausging, war in irgendeiner Weise stets die ganze Welt anwesend“ (Heimito von Doderer). Eine merkwürdige Erfahrung: „Das ist wirklich der ,helle Raum‘, in dem die Dinge von selbst an ihren rechten Platz kommen“ (Hannah Arendt). Und warum? Weil Maurice Chappaz Dichter ist. <

 

„Nicht die Botschaft eines Buches, sondern sein Klima ist es, das uns einlädt, in ihm zu hausen“, bemerkte Nicolás Gómez Dávila. Beim Dichter stellt sich das Klima des Hinhorchens bereits nach wenigen Worten ein. Die Zartheit, mit welcher er die Sachen zur Sprache bringt, hat zur Folge, dass der sonst überaus redefreudige Bertil Galland vergisst dazwischenzufahren. Für einmal lässt er dem Gesprächspartner alle Zeit, den richtigen Ausdruck zu suchen, und so entsteht in langsamem Tempo eine zwar von vielen Pausen durchsetzte, aber kohärente, vollkommen sinnhafte Rede. Durch den Verzicht auf Floskeln und Füllmaterial steigert Maurice Chappaz die Trefflichkeit seiner Ausführungen zur Vortrefflichkeit. Hier liegen die Hauptqualitäten in Schlichtheit und Prägnanz.

 

Schon bald zeigt das Gespräch, dass der Dichter ein Vermittler ist. Er holt durch Worte ein Jenseits ins Diesseits. Diese von Doderer geprägte Zauberformel ist Maurice Chappaz aufgegangen, als er in seiner Jugend mit dem Dichter der Dichter, Gustave Roud, in Umgang trat. Später führte ihn die Anziehung des Jenseits in die Höhe, zu den Alpenübergängen. Beim Besteigen der Pässe erfuhr er, wie sich ein Massiv öffnet, um hinter sich das andere in Erscheinung treten zu lassen: das Blau des Himmels; das Gebräu von Wolken und Nebel; das Tal einer fremden Kultur.

 

Zur Suche nach Übergängen hatte ihn ursprünglich die unglückliche Zeit in der Klosterschule von Saint-Maurice getrieben. Durch seine linkische Art war er zum Gespött der Zöglinge geworden. Die Ächtung verschlug dem Gymnasiasten die Sprache. Er konnte nicht mehr reden. Doch dann entdeckte er im Diesseits das Jenseits und fing an zu schreiben.

 

Maurice Chappaz fand den gleichen Ausweg wie > Walter Mafli in seiner Thurgauer Erziehungsanstalt. Der geplagte Bub entzog sich dem Elend durch Flucht in den Estrich. Dort begann er, herumliegendes Material zu bearbeiten: ein Stück Holz, ein Blatt Papier. Er stellte den zerstörenden Kräften ein lichtvolles Gegenreich entgegen, und am Ende wurde er Maler.

 

Bin mehr denn je der Meinung, dass man eine menschenwürdige Existenz nur am Rande der Gesellschaft sich heute ermöglichen kann, wobei man dann eben mit mehr oder weniger Humor riskiert, von ihr entweder gesteinigt oder zum Hungertode verurteilt zu werden.

(Hannah Arendt.)

 

Vom Rand aus entwickelte Maurice Chappaz ein besonderes Gespür für die Ambivalenz des Fortschritts. Während er als Dichter lange feilte, um seine Texte zur Perfektion zu bringen, brachte ihn die Empörung über den Wirtschaftsutilitarismus zu eruptiv hinausgeschleuderten Pamphleten. Durch „Die Zuhälter des ewigen Schnees“ (Les maqueraux des cimes blanches) wurde er im deutschen Sprachraum bekannt. Im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main erschien 1979 sein „Lötschental. Die wilde Würde einer verlorenen Talschaft“ in deutscher Übersetzung; 1990 erfuhr es eine Neuauflage. Maurice Chappaz vertrat die Ansicht, das Wallis habe seine Seele der Wirtschaft geopfert:

 

Seit jeher freie Männer werden zu Verwaltern eines besetzten Gebiets gemacht. Ihre Arbeit ist Prostitution, das Geld, ihre einzige Entschädigung, ist eine Täuschung.

 

Dieselbe Feststellung trifft auch > Maurice Zermatten. In seinem Porträt schildert er mit Wärme, wie sich die Menschen früher in ihr hartes Los schickten. Niemand träumte von einem anderen Leben. Alle nahmen die Verhältnisse an, wie sie waren, und bewährten sich in ihnen. Sie waren überzeugt, dass sie dafür im Jenseits den Lohn finden würden. Namentlich den Frauen gab der Glaube Kraft, die zahlreiche Familie durchzubringen, zu ernähren, zu kleiden. Ihr ans Haus gebundenes Wirken beschreibt Maurice Zermatten mit Verehrung und Dankbarkeit, und mit achtzig widmet er der Mutter ein letztes Buch: „O vous que je n’ai pas assez aimée“ (O Sie, die ich nicht genug geliebt habe).

 

Weil sie mehr sind als Materialisten, nehmen die Dichter mit geschärften Sinnen die Ambivalenz des wirtschaftlichen Fortschritts wahr. Bertolt Brecht bringt in seinem Schauspiel „Der gute Mensch von Sezuan“ dafür die Parabel:  

 

In Sung ist ein Platz namens Dornhain. Dort gedeihen Katalpen, Zypressen und Maulbeerbäume. Die Bäume nun, die ein oder zwei Spannen im Umfang haben, die werden abgehauen von den Leuten, die Stäbe für ihre Hundekäfige wollen. Die drei, vier Fuss im Umfang haben, werden abgehauen von den vornehmen und reichen Familien, die Bretter suchen für ihre Särge. Die mit sieben, acht Fuss Umfang werden abgehauen von denen, die nach Balken suchen für ihre Luxusvillen. So erreichen sie alle nicht ihrer Jahre Zahl, sondern gehen auf halbem Wege zugrunde durch Säge und Axt. Das ist das Leiden der Brauchbarkeit.

 

„Aber dann wäre ja der Unnützeste der Beste.“

 

„Nein, nur der Glücklichste. Der Schlechteste ist der Glücklichste.“

 

Im Lauf der „Entwicklung“ kommt den Wallisern die Beziehung zum Mann mit der Hippe, dem Freund Hein, dem Nachbar Tod abhanden, wie sie noch verschiedene Buchtitel von Chappaz spiegeln:

 

Zum Lachen und Sterben, Geschichten, Gleichnisse und Lieder aus dem fernen Land.

(A rire et à mourir, récits, paraboles et chansons du lointain pays.)

 

Totenmesse.

(Office des morts.)

 

Der Tod hat sich wie ein Vogel niedergelassen.

(La Mort s’est posée comme un oiseau.)

 

Heute wird im Wallis wie überall das Verhältnis von Leben und Tod nicht mehr als Verflechtung empfunden, sondern als Dichotomie. Damit zeigt sich jetzt auch bei uns, was Hannah Arendt an den Vereinigten Staaten der 1940er Jahre ins Auge fiel:

 

Der grosse politisch-praktische Verstand hier, die Leidenschaft, Dinge in Ordnung zu bringen – „to straighten things out“ –, überflüssiges Elend nicht zu dulden, darauf zu achten, dass inmitten einer oft wirklich halsschneiderischen Konkurrenz die „fair chance“ des einzelnen gewahrt bleibt, hat auf der anderen Seite zur Folge, dass man da, wo man nicht ändern kann, sich auch nicht kümmert. Die Stellung dieses Landes zum Tode wird nie aufhören, uns Europäer zu skandalisieren. Die Grundhaltung, wenn einer stirbt oder überhaupt irgendetwas unwiderruflich schiefgeht, ist: „forget about it“. Dies wiederum ist natürlich nur ein anderer Ausdruck für die grundsätzliche Ungeistigkeit des Landes – die auf den Universitäten aus bestimmten speziellen Gründen am schlimmsten ist.

 

Und gleichwohl: Media vita in morte sumus.

 

Die Verflochtenheit von Leben und Tod gibt der Aufnahme mit Maurice Chappaz ihr besonderes Gewicht. Einen Tag vor dem Gespräch, in welchem der Dichter über sein Werk und seinen Werdegang sprach, hat das Filmteam seine Erinnerungen an > Corinna Bille festgehalten. Die Schriftstellerin erlag zwei Wochen vor dem Besuch der „Plans Fixes“ dem Krebstod. Sie hatte 37 Jahre lang mit Maurice zusammengelebt. Der Ehe sind drei Kinder entsprossen.

 

23 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden