Françoise Sartori-Correvon: und die Strassenkinder von Fortaleza in Brasilien.


Aufgenommen am 13. Januar 1997 in Etoy.

Françoise Sartori-Correvon – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Es gibt Menschen, die so gebaut sind, wie sie „Das Neue Testament unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi“ in Kapitel 6, Vers 34 des Markus-Evangeliums beschreibt: „Jesus sah das grosse Volk; und es jammerte ihn derselben, denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ Auch Françoise Sartori-Correvon „jammerte es derselben“, als sie in Brasilien der Strassenkinder ansichtig wurde, und sie begann, sich in ihren Dienst zu stellen. <

 

Zu den Menschen, denen Ungerechtigkeit und Elend gerade ins Herz gehen, gehörte der Göttinger Physikprofessor Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799): „Es tun mir viele Sachen weh, die andern nur leid tun.“

 

Gleich gebaut war Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827).

 

Über ihn berichtete Heinrich Zschokke 1842:

 

Man erzählte sich mancherlei Anekdoten von ihm, um sich von ganzem Herzen über ihn zu belustigen, z.B. wie er einmal, auf dem Weg von Solothurn nach Basel, eine arme Familie im bittersten Elend fand; helfen wollte, nicht konnte; keinen Heller Geld bei sich hatte; aber von seinen Schuhen die silbernen Schnallen löste, sie hingab, fort­rannte, die Schuhe mit Stroh festband und so zum Gelächter der Gassenbuben in die Strassen der reichen Handelsstadt einzog.

 

Die Filmsammlung der „Plans Fixes“ hat mehrere Persönlichkeiten festgehalten, die sich für die Benachteiligten eingesetzt haben:

 

– Den Gründer von Terre des Hommes > Edmond Kaiser,

 

– die Strassenseelsorgerin > Mutter Sofia,

 

– die Minderheitenfrau > Diane Gilliard,

 

– die Kämpferin für die Frauenrechte im Nahen Osten > Jacqueline Thibault,

 

– den Gründer von Volksküchen und Notschlafstellen in Genf > Noël Constant,

 

–  die Beraterin der Eingewanderten > Pilar Ayuso.

 

In die Reihe dieser Persönlichkeiten gehört auch Françoise Sartori-Correvon. Im Norden Brasiliens setzte sie sich dafür ein, die Strassenkinder von Fortaleza aus dem Elend zu führen. Warum? Sie konnte nicht anders: „Ungerechtigkeit hat mich immer aufgebracht, besonders gegenüber Tieren und Kindern. Denn die können sich nicht wehren.“ In dieser Hinsicht verfolgte sie eine Linie. Im übrigen aber steuerte der Zufall der Begegnungen ihren Lebenslauf, bis sie begriff: „Für diese Kinder, die alle aufgegeben haben, die niemand beachtet und niemand betrauert, nicht einmal die Eltern, musst du dich einsetzen.“

 

Es ging ihr in dieser Sache gleich wie Doris und Peter Walser-Wilhelm, den Herausgebern der „Bonstettiana“ (40 Bände). Sie hatten ihre philologische Riesenaufgabe auch nicht gesucht. Sie hatten einfach eines Tages gemerkt: „Nicht was wir wollen, sondern was uns will, sollen wir tun.“

 

Der Ruf des Herzens ist des Schicksals Stimme. Françoise Sartori-Correvon brachte Terre des Hommes Lausanne mit den Ordensschwestern von Fortaleza zusammen. In der Schweiz war das Geld; in Brasilien waren die Gebäude, die Strukturen und das Elend.

 

Am Anfang erfuhr die philanthropische Schweizerin viele Rückschläge und Enttäuschungen. Niemand hatte auf sie gewartet. Ihr Einsatz stiess bei den Einheimischen auf Misstrauen. Und die Strassenkinder nützten ihre Güte aus.

 

Es war sehr schwer, des Bettels und Müssiggangs gewohnte Kinder an eine anhaltende Arbeit zu gewöhnen. Diese Schwierigkeit war um so viel grösser, je länger diese Kinder dieser untätigen, ruhigen Lebensart gewohnt waren.

 

Mit diesen Worten beschreibt zweihundert Jahre vor Françoise Sartori-Correvon der Erzieher und Philosoph Johann Heinrich Pestalozzi die Erfahrungen im Drittweltland Schweiz. Es ist überall dasselbe:

 

Die armen Kinder sind meistens gewohnt, ohne Mass zu essen, wenn sie es haben. Ordnung – Einteilung – schmerzt sie im Anfang – sie nehmen zum Stehlen der Erdäpfel, Rüben, Feldfrüchte ihre Zuflucht.

 

Der historische Brockhaus von 1839 erklärt:

 

Tief ergriffen von dem sittlichen Elende der Armen im Volke, das Pestalozzi durch Erfahrung kennenlernte, beschloss er zu helfen, soweit er vermochte. Überzeugt, dass die Erziehung der Jugend allein das geeignete Heilmittel sei und ohnedies Kinderfreund aus Neigung, fing er 1775 an, verlassene Bettelkinder in sein Haus zu nehmen und ihnen Vater, Lehrer, Versorger zu werden. Bald sah er mehr als 50 um sich versammelt und verfolgte mehre Jahre seinen edlen Zweck bloss aus eignen Mitteln; allein diese waren dazu nicht ausreichend, und da ihm die Gabe abging, äussere Vorteile mit seinem Unternehmen zu verknüpfen oder wenigstens die Teilnahme Bemittelter dafür zu gewinnen, so geriet Pestalozzi in Bedrängnisse und ward noch dazu als ein Tor und Schwärmer verspottet.

 

Eine Schwierigkeit eigener Art schufen in der Schweiz – wie in Brasilien – die Angehörigen der Kinder. Pestalozzi:

 

Es ist unsäglich, wie die Undankbarkeit und Bosheit einen Helfer Verdriesslichkeiten aussetzt. Der Ernst, der gegen Trägheit und Bosheit notwendig ist, wird missdeutet. Mütter, Verwandte dieser Kinder haben mehrenteils ein Betragen, das mich entehrt. Ich weiss nicht, was sie erwarten, was sie denken oder fordern. „O du armes Kind, musst du jetzt den ganzen Tag so arbeiten? Hast du auch zu essen? Ist es auch gut gekocht? Möchtest du nicht lieber heim?“ Dann weint das Kind, das bei der guten Mutter müssig lebte, und wenn diese jetzt sieht, dass jetzt das Kind etwas verdienen könnte und gekleidet ist, so gibt sie ihm den ordentlichen Rat, jetzt heimzukommen, und verleumdet, ihr Verfahren zu rechtfertigen, die Anstalt. Dieser Undank ist mir sehr oft begegnet.

 

In Fortaleza brauchte Françoise Sartori-Correvon neun Jahre, um das Misstrauen zu besiegen. In dieser Zeit lernte sie auch, die Kinder zu verstehen, ihre Listen zu durchschauen und sich in Respekt zu setzen.

 

Mehr als 100 verlassene Kinder verdankten Pestalozzi schon ihre Erziehung zu brauchbaren Menschen, als er sich gezwungen sah, wegen erschöpfter Mittel sein Unternehmen aufzugeben.

 

Wie der Brockhaus rubriziert, führte Pestalozzis erstes Projekt am Ende zur Aufgabe wegen „erschöpfter Mittel“. Auch Françoise Sartori-Correvon musste ihr Projekt aufgeben. Die Hilfe in Brasilien läuft zwar weiter. Aber im Gespräch mit den „Plans Fixes“ erzählt die Porträtierte, sie habe sich nach elfjährigem Dauereinsatz in einen Zustand „erschöpfter Mittel“ hineinlaufen sehen, zumal sie in dieser Zeit zwei Kinder bekommen habe. Jetzt sei ein Wechsel fällig. Sie wolle sich in der Schweiz ihrer Familie widmen und dann weiterschauen. Und so verliert sich ihre Spur.

 

Ausser im Film, der sie 1997 festgehalten hat, existiert Françoise Sartori-Correvon im Web nicht. Und alle angeschriebenen Stellen, die in der Lage sein könnten, ihr Geburtsdatum für diesen Essay mitzuteilen, liessen die Post bis heute unbeanwortet.

 

Man gedenkt nicht derer, die zuvor gewesen sind; also auch derer, so hernach kommen, wird man nicht gedenken bei denen, die hernach sein werden. (Prediger 1, 11)

 

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