Jean Villard – Gilles: Chansonnier.

2. Juni 1895 – 26. März 1982.

 

Aufgenommen am 26. November 1980 in Saint-Saphorin.

Jean Villard – Gilles – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Von Gilles (mit bürgerlichem Namen Jean Villard) halten die „Plans Fixes“ fest: „Eine der beliebtesten Stimmen der Westschweiz.“ Dreihundert Chansons hat er getextet, komponiert und vorgetragen. Viele (wie „La Venoge“) wurden „patrimoine vaudois“. Einzelne (wie „Le Männerchor de Steffisbourg“) schafften es über den Röstigraben. Und ein paar (wie „Trois cloches“ mit Edith Piaf) wurden Welthits. <

 

Jean Villard war an vielem beteiligt. Und das bedeutet: Mehr als bloss dabei. Mehr als Augenzeuge oder Zuschauer. Schon in der Kindheit animierte er die Kameraden, mit ihm Zirkus zu spielen. Dafür hatte es Platz hinterm Haus. Denn die Familie war wohlhabend. Der Vater, ein Architekt, verdiente das Einkommen mit der Errichtung jener Hotelbauten, die das heutige Erschei­nungs­bild von Montreux prägen und den Ort nach Lausanne und Yverdon zur drittgrössten Stadt des Kantons Waadt anwachsen liessen. Das erfolgte durch die Vereinigung von zwanzig Dörfern, Weilern und Ortsteilen, deren Namen sich erhalten haben (wie Territet, Clarens, Glion, Caux – und Vernex, wo Jean Villard aufwuchs).

 

Mit 19 Jahren hatte Jean Villard die Matur im Sack (klassisch mit Latein und Griechisch) und im Briefkasten das Aufgebot. Denn der Erste Weltkrieg war ausgebrochen. Jean wurde eingezogen. „Aktivdienst“ lautete der Befehl für die kommenden vier Jahre. In den Zeiten, in denen er freigestellt war, schrieb er Gedichte und beteiligte er sich an den Studententheateraufführungen der „Belles Lettres“, durch die auch > Jane Savigny und > Paul Vallotton den Weg zum Schauspielerberuf fanden.

 

Die Freundschaft mit Edmond Gilliard, einem der Herausgeber der „Cahiers vaudois“, der ihn förderte, indem er mit ihm seine Texte durchnahm, trug ihm bei Kriegsende einen Brief von Charles-Ferdinand Ramuz ein. Vor der Kamera der „Plans Fixes“ zeichnen die Hände des 85-Jährigen die Umrisse des Coverts nach. Nun zieht er den Brief heraus und lässt das Blatt sinken: Der bewunderte Schriftsteller lädt ihn ein, sich an der Uraufführung seiner „Histoire du soldat“ zu beteiligen (neben dem Komponisten Igor Strawinsky, dem Dirigenten Ernest Ansermet und dem Bühnenbildner René Auberjonois). Angeboten wird ihm die Rolle des Teufels.

 

Am 28. September 1918 kommt „L’Histoire“ im Stadttheater Lausanne zur Uraufführung. Der Erfolg ist beim Publikum mässig und in der Presse desaströs. „Kindertheater“ sagt die bourgeoise Kritik. Sie verträgt die neue Spielweise und die neue Musik nicht. Heute ist die Kurzoper eine Perle in der Geschichte des Musiktheaters. Der 80-jährige > Charles Dutoit träumt davon, die Lausanner Aufführung zum 100. Jahrestag des Klassikers zu dirigieren. Doch bevor es soweit kommt, holt ihn die Me-Too-Bewegung ein und bricht ihm das Genick.

 

Jean Villard aber kommt durch seine Leistung nach Paris. Charles-Ferdinand Ramuz und Igor Strawinsky haben ihn einem Bruder im Geist empfohlen: dem avantgardistischen Theaterleiter Jacques Copeau, ursprünglich Theater­kritiker, Schriftsteller und Mitbegründer der Nouvelle Revue Française. Im Théâtre du Vieux Colombier hat er den konventionellen postromantischen Stil beiseitegefegt und eine zugleich textbezogene und artistische Spielweise geschaffen.

 

Im Theaterlexikon von Henning Rischbieter aus dem Jahr 1983 figuriert Copeau als „der stärkste Anreger des modernen französischen Theaters, Vorbild für mehr als eine Generation von Theaterleuten (Dullin, Jouvet, Barsaqc, Barrault, Vilar)“. Der Brockhaus aus dem Jahr 2006 bestätigt: „Er beeinflusste stark die Entwicklung des französischen Theaters im 20. Jahrhundert, so die Arbeit J.-L. Barraults und des Théâtre du Soleil.“ Jean Villard ist dabei beteiligt – als Ensemblemitglied, Bühnenarbeiter und Schauspieler.

 

1924 folgt er, zusammen mit zwei Kollegen, Copeau ins Burgund. In der Einsamkeit von Pernand-Vergelesses (den Weinkennern ein Begriff!) unterrichten sie Schauspielschüler, proben klassische Farcen und zeigen ihre Künste auf den Jahrmärkten wie die Artisten der Commedia dell’arte. Als aber der Meister, bedingt durch eine gesundheitliche und religiöse Krise, nichts mehr von sich hören lässt, ergreift Jean Villard die Zügel und wandelt sich vom Beteiligten zum Schöpfer. Nun schreibt und komponiert er Chansons für die Mitstreiter, verfasst die Zwischentexte, inszeniert die Wiedergabe und organisiert eine Tournee durch England. Das Auseinander­brechen der Truppe verhilft Jean Villard – Gilles 1929 zu seinem endgültigen Profil als „auteur-compositeur-interprète“.

 

Vor dem knisternden Kaminfeuer in Saint-Saphorin nimmt der an Tagen, Erfolgen und Werken Hochgesegnete die Zuschauer mit in seine dramatischen und pittoresken Karriere­zufälle. Er spricht von den Ereignissen so schlicht, offen und herzhaft, als wenn er seine Erinnerungen vor der Familie auskramen würde. Und mit dieser Art der Mitteilung erklärt sich, warum er in der Westschweiz zu einer der beliebtesten Stimmen wurde.

 

In der Westschweiz – weil hier, kriegsbedingt, sein Talent zur Blüte kam. Der 43-Jährige war in Paris schon ein Star, als ihn 1939 das Aufgebot erreichte, in der Schweiz Militärdienst zu leisten. Er hatte aber Glück; er kam zum Truppentheater. Hier spielte er für einen Sold von 8.50 Franken im Tag. Hatte er Urlaub, verdiente er als Schauspieler 20 Franken im Tag.

 

Der Direktor von Radio Lausanne, Marcel Bezençon, bot ihm eine eigene wöchentliche Sendung an: „La chanson du samedi“. 50 Franken pro Ausstrahlung. Bei dieser Gelegenheit lernte ihn die Westschweiz als auteur-compositeur-interprète zuerst kennen, dann schätzen und schliesslich lieben.

 

Der Film steuert auf das Ende zu. Und da schenkt der 85-jährige Jean Villard – Gilles seinen Zuschauern einen unvergesslichen Höhepunkt. Gebeten, „La Venoge“ vorzutragen, greift er zu einem oft durchblätterten Textbuch, entschul­digt sich, dass er die Worte nicht ganz sicher draufhabe, fängt dann mit den ersten Zeilen an und lässt durch das leichte Tasten und Suchen, mit dem er spricht, den Eindruck aufkommen, als würde das Lied gerade erst entstehen. Unversehens schlängelt sich die junge Venoge lächelnd durch die Landschaft ihrem Geliebten entgegen, dem weit ausgebreiteten Lac Léman. Die Worte sind so schlicht und trefflich, als hätten wir sie schon in der Kindheit vernommen und als gehörten wir nun zusammen … das Gewässer, die Landschaft, die Sonne, die Waadt … und Gilles… und wir.

 

„Die Klugen haben miteinander viel gemein[sam]“, stellte Goethe fest. So ist es nicht zu verwundern, dass Jean Villard – Gilles und Georg Christoph Lichtenberg aus dem selben Holz geschnitzt sind. Was der von Schiller geschätzte Lyriker Friedrich Matthisson am 23. Februar 1794 von einem Besuch beim Schriftsteller und Professor der Physik in Göttingen festhielt, beschreibt, ohne dass man viel zu ändern brauchte, auch den Eindruck, den der Zuschauer der „Plans Fixes“ aus Saint-Saphorin mitnimmt:

 

Deutschlands [bzw. Helvetiens] wizigster [d.h. geistvollster] Schriftsteller ist im Umgange einer der feinsten und hinreissendsten Menschen. Ich brachte einen Teil des heutigen Vormittages bei ihm zu und gewann den Mann von Herzen lieb, den ich bisher nur verehrt und bewundert hatte. In allen seinen Äusserungen herrscht ein Ton von Milde und Anspruchs­losigkeit, der selbst den Opfern seiner Satiren Wohlwollen abgewinnen müsste. Von den bewunderten Meisterwerken des Witzes und der Laune, die er mit unväterlicher Hand in Journale und Almanache herumstreute, wo sie nun, zum Teil, wie die Diamanten unter einem Schutthaufen begraben liegen, denkt er so bescheiden, dass er, der dringendsten Aufforderungen ungeachtet, immer noch nicht zu bewegen war, eine vollständige Sammlung derselben zu veranstalten.

 

Nicolás Gómez Dávila kennt den Grund:

 

Der wahre Künstler arbeitet mit der Mentalität eines Handwerkers.

 

233 Views
Kommentare
()
Einen neuen Kommentar hinzufügenEine neue Antwort hinzufügen
Ich stimme zu, dass meine Angaben gespeichert und verarbeitet werden dürfen.*
Abbrechen
Antwort abschicken
Kommentar abschicken
Weitere laden
Dialog mit Abwesenden / Réponses aux Plans Fixes 0