Jean François Billeter: Von der Sinologie zur Philosophie.

7. Juni 1939 –

 

Aufgenommen am 31. März 2022 in Chêne-Bougeries.

Jean François Billeter – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Wer noch nie einem wirklichen Professor begegnet ist, kann durch das Porträt von Jean François Billeter eine Anschauung davon gewinnen, was die Besten dieses Berufsstands auszeichnet: es ist (a) Feinheit des Geistes, (b) die Fähigkeit, grosse, komplexe Gegebenheiten zu überblicken und (c) das Vermögen, Aussenstehenden das Erkannte durch einen fesselnden Gedankengang zu vermitteln. <

 

Man sprach noch bis in die 1980er Jahre von „École de Genève“, um jenen Vorlesungsstil zu bezeichnen, den etwa > Jeanne Hersch, > Jacques Mercanton oder > Denis de Rougemont pflegten – die hervorragenden Professoren der Westschweiz.

 

Béatrice Perregaux, Dozentin für Theaterwissenschaft an der Universität Genf, charakterisierte die „École de Genève“ mit den Worten:

 

Wir befinden uns in einem Hörsaal. Am Pult trägt ein Professor seine Gedanken vor. Hinten öffnet sich die Tür. Eine Putzkraft will aufräumen, bemerkt aber, dass sie in eine Lehrveranstaltung geraten ist. Sie erstarrt. Nach einer Minute versteht sie, wovon die Rede ist. Nach fünf Minuten ist sie von den Ausführungen derart fasziniert, dass sie den Auftrag vergisst und den Besen abstellt. Nach dem Ende der Vorlesung kann sie ihren Kollegen weitererzählen, was sie gehört hat.

 

Wenn wir die Liste in unsere Zeit weiterführen, können wir > Jean-Claude Pont, Emeritus für Geschichte und Philosophie der Wissenschaften, und Jean François Billeter, Emeritus für Sinologie, ebenfalls unter der „École de Genève“ subsumieren. – Wer zu ihr zählt, verwirklicht das Ideal von „Simple & direct“. Unter diesem Titel publizierte Jacques Barzun, Geschichtsprofessor an der Columbia University, 1975 erstmals seine „Rhetoric for writers“:

 

Beim Lesen denkt der Erwachsene lediglich, dass dieser oder jener Autor „schwierig“ oder „langweilig“, „langatmig“ oder „verwickelt“ ist, als ob dies angeborene Charaktereigenschaften wären und nicht handwerkliche Fehler.

 

Der eigentliche Zweck ist immer derselbe: Der Autor soll richtig verstanden werden.

 

Das bedeutet, dass gutes Schreiben nicht spiessig, schwülstig, hochtrabend, ganz anders als wir selbst klingen sollte, sondern, nun ja – „einfach und direkt“.

 

Die Franzosen bezeichnen mit „mot juste“ das Wort, das genau passt. Warum ist dieses Wort im Allgemeinen so schwer zu finden? Die Gründe sind vielfältig. Erstens wissen wir nicht immer, was wir meinen, und zweitens sind wir zu faul, es herauszufinden.

 

Jean François Billeter weiss während der ganzen Aufnahme für die „Plans Fixes“, was er meint. Darum trifft er stets das richtige Wort. Er versteht es auch, die Fragen des Interviewers Jacques Poget so zurechtzudrehen, dass sie auf den Gegenstand passen. Die Fähigkeit, nicht nur den Stoff, sondern gleichzeitig auch den Kommunikationsprozess zu überblicken, zeichnet den grossen Hochschullehrer aus.

 

Der Berner Linguist Roland Donzé, der auch zur „École de Genève“ gehörte, schob gern das sogenannte entwickelnde Lehrgespräch in die Vorlesungen, um Abwechslung zu bieten und die Hörer zum aktiven Mitdenken zu bewegen. Wenn jemand dabei etwas Falsches sagte, pflegte Donzé das Votum mit der Wendung aufzunehmen: „Sie haben auf die Frage Y geantwortet. Ich aber habe die Frage X gestellt. Der Unterschied zwischen den beiden Fragen liegt in Z. Wenn ich nun die Frage X wiederhole, welche Antwort wird da gefordert?“

 

So subtil die Gegenstände waren, stets hatten sie in Donzés Vorlesung jene besondere Fasslichkeit und Luminosität, die man in Goethes naturwissen­schaftlichen Schriften findet. Eine Seltenheit. „Es ist ja doch nun einmal nicht anders: die meisten Menschen leben mehr nach der Mode als nach der Vernunft.“ (Georg Christoph Lichtenberg, Professor der Physik an der Universität Göttingen)

 

Ich besuchte Donzé zwei Wochen vor seinem Tod. Er war schon schwer vom Krebs gezeichnet. Im Tagebuch hielt ich fest: „Ich bewundere, wie perfekt er immer noch formuliert und seine Ideen zart und gleichzeitig genau zur Darstellung bringt.“

 

Jacques Barzun meint, man könne seine Formulierungsgabe trainieren, und zur Sprachbeherrschung will er mit der „Rhetoric for writers“ führen. Auch Jean François Billeter, der seine Ideen zart und gleichzeitig genau zur Darstellung bringt, unter­streicht, dass das fassliche Mitteilen auf „craftsmanship“ (Handwerkskunst) beruht.

 

Entwickelt und vorangetrieben wurde bei ihm die Handwerkskunst durch den Austausch mit den Studenten. Bei Studienbeginn hatten sie in der Sinologie – wie in den meisten andern Fächern – keine Ahnung vom Gegenstand, wollten aber lernen. Um ihren Wissenshunger stillen zu können, musste sich der Professor aufschwingen zum Grad der „informierten Einfachheit“.

 

In seinem Buch „101 Things I Learned in Architecture School“ beschreibt sie Matthew Frederick im Kapitel „Drei Ebenen des Wissens“:

 

EINFACHHEIT ist die Weltsicht des Kindes oder des uninformierten Erwachsenen, der voll und ganz in seine eigene Erfahrung vertieft ist und sich glücklicherweise nicht bewusst ist, was unter der Oberfläche der unmittel­baren Realität liegt. 

 

KOMPLEXITÄT kennzeichnet die normale Weltsicht eines Erwachsenen. Sie ist gekennzeichnet durch das Bewusstsein für komplexe Systeme in Natur und Gesellschaft, aber die Unfähigkeit, klärende Muster und Zusammenhänge zu erkennen.

 

INFORMIERTE EINFACHHEIT ist eine aufgeklärte Sicht der Realität. Sie beruht auf der Fähigkeit, innerhalb komplexer Gemengelagen klärende Muster zu erkennen oder zu schaffen.

 

Bei Jean François Billeter zeigt das Spiel der Hände, dass er sich beim Sprechen bewusst ist, komplexe Sachverhalte durch Vereinfachung auf eine verständliche Ebene zu heben. Daumen und Zeigefinger berühren sich im sogenannten Präzisionsgriff. Die Geste drückt aus, dass der Sprechende nach Genauigkeit strebt, um feine, kleine Nuancen zu erfassen.

 

So macht er klar, dass schwierige Sachen schwierig sind, man aber doch Aussagen machen kann und muss zur Eigenart von Sachen wie der Chinesischen Sprache und Kultur. Bei diesem Vorgang übermittelt Jean François Billeter aufregende, eigenständige Einsichten.

 

Den Weg dazu hat Prof. Dr. Lichtenberg in Heft G seiner „Sudelbücher“ fest­gehalten:

 

Ein gutes Mittel, gesunden Menschenverstand zu erlangen, ist ein beständiges Bestreben nach deutlichen Begriffen, und zwar nicht bloss aus Beschreibungen anderer, sondern so viel möglich durch eigenes Anschauen. Man muss die Sachen oft in der Absicht ansehen, etwas daran zu finden, was andere noch nicht gesehen haben; von jedem Wort muss man sich wenigstens einmal eine Erklärung gemacht haben, und keines brauchen, das man nicht versteht.

 

Bien dit.

 

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