Anne-Lise Grobéty: Schriftstellerin.

21. Dezember 1949 – 5. Oktober 2010.

 

Aufgenommen am 21. September 2006 in Vauroux.

Anne-Lise Grobéty – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Mit zwölf schrieb Anne-Lise Grobéty ihren ersten Roman. „Glücklicherweise ist nichts von ihm übrig geblieben“, sagt sie im Gespräch mit den „Plans Fixes“. Mit achtzehn verfasste sie den zweiten: „Pour mourir en février“. Er errang auf Anhieb den Prix Georges-Nicole, und von da an war die 19-Jährige eine Grösse in der Westschweizer Literatur. <

 

„Pour mourir en février“, der erste Roman (eine mehrbödige Geschichte in Ich-Form, welche die Gefühlslage einer jungen Frau subtil auslotet), sei „nur so“ aus ihr herausgeronnen, erzählt Anne-Lise Grobéty. Der Text riss sie mit sich fort.

 

Viele Autoren erleben diesen Flow. – Jeremias Gotthelf:

 

Sobald ich eine Arbeit anfange, so kommt ein Geist in die Arbeit, und dieser Geist ist mächtiger als ich, und in jede Person kommt ein Leben, und dieses Leben fordert seine Rechte, will auswachsen und nach allen Richtungen sich geltend machen.

 

Als das Manuskript zu „Pour mourir en février“ einlangte, horchten die Grossen der Westschweizer Literatur, > Nicolas Bouvier, > Maurice Chappaz, > Jacques Chessex, > Jean Cuttat und > Alice Rivaz, augenblicklich auf und öffneten die Arme für Anne-Lise Grobéty, indem sie ihr den soeben von ihnen gegründeten Prix Georges-Nicole zusprachen, mit dem ab 1969 ein junger Autor ausgezeichnet wird, der vorher noch nicht publiziert worden ist.

 

Als dann aber das Werk erschien, nahmen die meisten Leser die Fiktion als Autofiktion auf. Sie setzten das Ich der Erzählung mit dem Ich der Autorin gleich. Ein häufiges Missverständnis. Manchmal vom Autor (im konkreten Fall Albert Bitzius) auch gewollt:

 

Treuherzig bringe ich euch, liebe Bauersleute, meine Gabe, und treuherzig will ich bleiben, mag man mich auch misskennen und schmähen oder verspotten und auslachen:

 

Der Bauern-Spiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf, von ihm selbst geschrieben.

 

Ich bin geboren in der Gemeinde Unverstand, in einem Jahre, welches man nicht zählte nach Christus.

 

Nach mehr als einem halben Jahrhundert hat Julien Burri 2022 in „Le Temps“ für die (Wieder-)Begegnung mit „Pour mourir en février“, dem 1970 erschienen Roman von Anne-Lise Grobéty, plädiert:

 

In den Strassen von Neuenburg verliebt sich eine junge Frau in eine ältere Frau. Aude, fast noch ein Teenager, fühlt sich nicht lebendig, bis sie den Weg von Gabrielle kreuzt, der geheimnisvollen, betörenden, fast gewalttätig zärtlichen Frau.

 

Anne-Lise Grobéty jedoch wurde es bald satt, immer wieder rufen zu müssen: „Je est un autre!“ (Ich ist eine andere!), und am Ende begann sie zu sagen: „Ja, ich bekenne es: Alles, was geschrieben ist, ist wahr – mit Ausnahme der Geschichte.“

 

Mit diesem Geständnis umschreibt die sprachmächtige Autorin im Gespräch mit Charles Sigel die irritierende Tatsache, dass Literatur, aller Fiktionalität zum Trotz, immer stimmt. Goethe fasste die Gegebenheit in die lakonischen Worte: „Die Poesie sagt wahr, indem sie lügt.“

 

Nach dem Erscheinen aber beginnt das Werk seinen eigenen Gang. „Ich habe es aus mir entlassen, wie eine Mutter das Kind aus sich entlässt“, erklärt Anne-Lise Grobéty. „Es tritt in die Welt und beginnt, sein eigenes Leben zu führen in der Begegnung mit den Lesern, die es schaffen, indem sie es aufnehmen.“

 

Der Weg zum zweiten Roman, „Zéro positif“, sechs Jahre später erschienen, wurde für die junge Autorin dadurch steiler, dass sie anfänglich in ihrer Erwachsenen­karriere zu allzu vielem ja gesagt hatte: Sie hatte eine journalistische Ausbildung aufgenommen, sich als Sozialdemokratin ins Neuenburger Kantonsparlament wählen lassen und drei Töchtern das Leben geschenkt.

 

Multitasking hat auch andere in ihrer Entwicklung gehemmt. Goethe:

 

Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen. Allein wie sehr war dieses durch meine äussere Stellung gestört, beschränkt und gehindert! Hätte ich mich mehr vom öffentlichen und geschäftlichen Wirken und Treiben zurückhalten und mehr in der Einsamkeit leben können, ich wäre glücklicher gewesen und würde als Dichter weit mehr gemacht haben. – Ein weitverbreiteter Name, eine hohe Stellung im Leben sind gute Dinge. Allein mit all meinem Namen und Stande habe ich es nicht weiter gebracht, als dass ich, um nicht zu verletzen, zu der Meinung anderer schweige.

 

Anne-Lise Grobéty, der Sache der Frau durchaus zugetan, sagt im Film, es gebe auch andere, ebenso wichtige Anliegen. Ihre Aufgabe sei es nicht, die Konfrontation zu suchen, sondern die Zusammenarbeit. Die Politik und das tätige Leben, sagt sie, hätten sie lange ausgefüllt. Und doch habe sie gemerkt: „Mein eigentliches Glück ist mein poetisches Sinnen und Schaffen.“ Darum zieht es sie zu den Manuskriptblättern wie in die Arme eines Geliebten.

 

Anne-Lise Grobéty schreibt, im Unterschied zu Goethe, ihre Texte mit der Feder: „Auf diese Weise ist der ganze Körper an der Entstehung beteiligt und nicht nur der Kopf. Wenn ich im Flow bin, ist die Schrift voll und rund. Wenn sich die Zeichen verkrampft gestalten, schreibe ich nicht. Dann wird nämlich der Text auch nicht gut.“ Goethe: „In der Poesie lassen sich gewisse Dinge nicht erzwingen, und man muss von guten Stunden erwarten, was durch geistigen Willen nicht zu erreichen ist.“

 

Anne-Lise Grobéty arbeitet am liebsten bei offenem Fenster. Die Halme bewegen sich im Wind, ein Vogel fliegt vorbei. Das äussere Geschehen verwebt sich auf unerklärliche Weise mit dem Text. In dieser Beziehung geht es Anne-Lise Grobéty wie ihrem Schriftstellerkollegen > Hughes Richard im Neuenburger Hochtal von Les Ponts-de-Martel, weitab vom Getriebe der Welt: „Ich liebe es, wenn die Morgendämmerung auf das mehr oder minder vollendete Blatt fällt. Dann trete ich ans Fenster und nehme den aufsteigenden Tag in mich auf. Dieser Moment ist geprägt von einer Stille, die nie vorübergehen sollte.“

 

Im Haus am Frauenplan entstanden die Texte anders:

 

In die Zeit, in welcher ich [Johann Christian Schuchardt] die Stelle eines Sekretärs bei Goethe versah, fällt die Herausgabe seiner Werke letzter Hand, und derselbe diktierte mir dafür Neues und Umgearbeitetes, unter anderem auch „Wilhelm Meister“ (Wanderjahre), wobei ich Gelegenheit hatte, die Kraft, Sicherheit und Klarheit seines Geistes in so hohen Jahren [77] zu bewundern. Er tat dies so sicher, fliessend, wie es manche nur aus einem gedruckten Buche zu tun imstande sein würden. Wäre das ruhig und ohne äussere Störung und Unterbrechung geschehen, so würde ich kaum aufmerksam geworden sein. Dazwischen aber kam der Barbier, der Friseur (Goethe liess sich alle zwei Tage das Haar brennen, täglich frisieren), der Bibliotheksdiener, öfter der frühere Sekretär Goethes, der kürzlich verstorbene Bibliothekar Rat Kräuter, der Kanzlist, welche alle die Erlaubnis hatten, unangemeldet einzutreten. Der Kammerdiener meldete einen Fremden an, mit welchem sich Goethe, im Fall der Annahme, längere oder kürzere Zeit unterhielt; dazwischen trat auch wohl jemand aus der Familie ein. Der Barbier und Friseur erzählten, was in der Stadt etwa passiert sei, der Bibliotheksdiener berichtete von der Bibliothek usw.

 

Wie beim Anklopfen das kräftige „Herein!“ ertönte, beendigte ich den letzten Satz und wartete, bis der Anwesende sich wieder entfernte. Da wiederholte ich soviel, als mir für den Zusammenhang nötig schien, und das Diktieren ging bis zur nächsten Störung fort, als wäre nichts vorgefallen. Das war mir doch zu arg, und ich sah mich überall im Zimmer um, ob nicht irgendwo ein Buch, ein Konzept oder Brouillon läge, in das Goethe im Vorübergehen schaute (während des Diktierens wandelte derselbe nämlich ununterbrochen um den Tisch und den Schreibenden herum), aber niemals habe ich das Geringste entdecken können.

 

Während des Diktierens kam es nicht selten vor, dass Goethe plötzlich stehen blieb, wie man etwa tut, wenn man eine Gruppe Menschen oder einen andern Gegenstand unvermutet vor sich sieht, welche die augenblickliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Diese schien er sofort künstlerisch zu gestalten und zu grupieren. Mit ausgebreiteten Händen und unter Beugung des Körpers nach der einen oder andern Seite brachte er den Gegenstand ins Gleichgewicht und in kunstgerechte Stellung. War ihm das gelungen, so rief er gewöhnlich: "So recht! ganz recht!“ Anfangs wurde es mir fast unheimlich bei dieser Unterhaltung mit der unsichtbaren Gesellschaft, seinen eigenen Kunstgebilden. Es wurde mir aber dadurch anschaulich klar, dass die ganzen Figuren und Situationen, der ganze Verlauf der Handlung, lebendig vor seiner Seele vorüberzogen.

 

Am 21. September 2006, an dem das Kamerateam der „Plans Fixes“ bei den Häusern von Vauroux für die Aufnahme abstieg, hatte Anne-Lise Grobéty gerade die Korrekturbögen für ihren neuesten Roman „La corde de mi“ (Die e-Saite) zugeschickt bekommen. Früher, zur Zeit des Bleisatzes, nannte man dieses Produkt den „Fahnenabzug“. Aber wie haben sich die Rhythmen beschleunigt! „Am Sonntagabend habe ich das Manuskript meinem Verleger Bernard Campiche geschickt. Zehn Minuten später dankte er mir schon enthusiastisch. Und heute [Dienstag] liegt das Werk, an dem ich neun Jahre gearbeitet habe, vollständig umbrochen vor mir.“

 

Zur Goethe-Zeit war das noch anders. Um 1820 (aus dieser Zeit stammt die Anekdote) wurden die Korrekturfahnen nicht elektronisch übermittelt, sondern durch einen Setzerlehrling ins Haus gebracht. Goethe begann, einen Satz zu ändern. Der Setzerlehrling sah mit Unwillen, wie Goethe Altes strich und Neues einfügte, und sagte schliesslich: „Machen Sie nur nicht so viele Korrekturen, das gibt bei uns nur überflüssige Arbeit!“ Lächelnd liess sich Goethe über die Schwierigkeiten der Satzverbesserung aufklären und versprach, in Zukunft die Buchstaben auszuzählen, die er streiche, und genau die gleiche Anzahl wieder einzufügen. „Sie sollten lieber nur Gedichte machen“, sagte der Knabe darauf, „bei Gedichten sind ja die Zeilen sowieso immer gleich lang. Das muss auch für Sie viel einfacher sein.“

 

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