Samuel Roller: Westschweizer Lehrer.

6. Februar 1912 – 21. März 2003.

 

Aufgenommen am 26. Januar 1996 in Genf.

Samuel Roller – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die Begegnung mit Samuel Roller zeigt: Gute Lehrer sind gute Erklärer. Ihre Worte lassen aufmerken: „Der hat etwas zu sagen!“ Beim Weiterreden gestalten sich die Sätze fasslich. Die Aussagen laufen auf etwas hinaus: „Ah, ja, so ist es!“ Den Hörern geht eine Welt auf. Getragen vom Lehrer, fühlen sie sich leicht. Der Widerstand vor dem Unbekannten, Schwierigen, Ermüdenden, rätselhaft Verschlossen weicht dem Vergnügen voranzukommen, Zusammenhänge zu begreifen, Neues beherrschen zu lernen und dadurch jemand zu werden. <

 

„Es ist unmöglich, in der Welt umherzureisen und gleichzeitig intelligent zu sein. Die Intelligenz ist eine Angelegenheit von Sitzfleisch.“ Die Lehrer, die es in die „Plans Fixes“ geschafft haben, bestätigen die Feststellung des kolumbianischen Selberdenkers Nicolás Gómez Dávila. Nie verliess der Primarlehrer > Roland Stähli das heimatliche Tramelan. > Maurice Zermatten wirkte sein Leben lang am Gymnasium in Sitten, > Sylviane Roche in Nyon. > Francis Bourquin unterrichtete als Primarlehrer 12 Jahre im Heimatdorf Villeret, dann 21 Jahre an der Sekundarschule in Biel.

 

Auch Georg Christoph Lichtenberg verliess den Ort nicht mehr, nachdem er als Professor an der Universität Göttingen untergekommen war. Er hatte das glänzend­ste und modernste Laboratorium seiner Zeit. Die Welt reiste zu ihm – die Studenten in der Regel zu Fuss. Der gelehrte Mann liebte es, in seinen Vorlesungen die Naturgesetze mit Experimenten zu demonstrieren. Sie brachten ihm volle Hörsäle. Nicht ohne Stolz vermerkte er in seinen Briefen die Zahl der Prinzen, die sich auf der Grand Tour für ein Semester bei ihm eingetragen hatten: Zwei. Vier. Sieben!

 

Und der Professor Kant:

 

Er war der erste, der über „physische Geographie“ las: dieses Kolleg war sein besuchtestes und ihm selbst das liebste, er hat es fast jedes zweite Semester abgehalten. Er schilderte darin, obgleich er nie über den Umkreis seiner Vaterstadt Königsberg hinausgekommen war, nie das Meer, nie eine Weltstadt, eine reiche Vegetation, ja auch nur ein Gebirge oder einen grossen Strom gesehen hatte, alle Regionen der Erde so lebhaft und anschaulich in ihren sämtlichen Einzelheiten, dass alle Uneingeweihten ihn für einen Weltreisenden hielten. Die Westminster­brücke beschrieb er einmal mit solcher Genauigkeit und Deutlichkeit, dass ein anwesender Engländer behauptete, er müsse ein Architekt sein, der mehrere Jahre in London gelebt habe. Dies nämlich war die Art seiner Phantasie: er vermochte sich Dinge anschaulich vorzustellen, die er nie gesehen hatte, ja die überhaupt noch nie ein Mensch gesehen hatte. Dieses Gebiet, das nur er leibhaftig, deutlich und genau zu erblicken vermochte, war die menschliche Vernunft, und diese Gabe machte ihn zum Unikum in der ganzen menschlichen Geschichte.

(Egon Friedell)

 

All die grossen Lehrer, von Roland Stähli in Tramelan bis zu Immanuel Kant in Königsberg, haben zwei Dinge gemeinsam: Sie sind wortmächtig; und wenn sie nicht vor einer Klasse stehen und reden, sitzen sie vor einem Blatt und schreiben. In beiden Fällen realisieren sie durch ihre Mitteilung ein Dreieck: Der eine Schenkel verbindet sie mit der Sache, der andere mit dem Schüler. Und das Angestrebte bildet die Basis: Die Verbindung zwischen dem Schüler (oder Leser) und der Sache.

 

Damit sich Aufnahmebereitschaft einstellt, wecken die Lehrer durch ihr Auftreten den Eindruck, dass sie etwas Wichtiges zu übermitteln hätten. Zu diesem Zweck müssen die Schüler gleich bei den ersten Worten einhängen können: „Tua res agitur! Was du vernimmst, ist dein Ding, schau nur!“ Neben Klarheit und Fasslichkeit schafft der Lehrer mit seiner Autorität (also der Ausstrahlung, dass er seinen Gegenstand beherrsche) die Überzeugung, dass das Unbekannte, das es zu verstehen gelte, Bedeutung habe. Wenn die nun dem Schüler aufgeht, erlebt er den beglückenden Aha-Effekt.

 

Dabei spielt die Grösse des Gegenstands keine Rolle. In der österreichischen Nationalbibliothek untersuchte die Werkstudentin Hedwig Heger acht schmale Pergamentblätter: Reiserechnungen des Bischofs von Passau aus der Zeit vom 22. September 1203 zum 30. Juli 1204. Das Resultat der Analyse fand Beachtung, und im Alter von 39 Jahren wurde Hedwig Heger 1973 die erste Professorin für Germanistik an der Universität Wien. „An der ersten Fakultätssitzung hielten mich die Herren Kollegen für eine Sekretärin.“

 

Das genaue Hinschauen pflegte nun auch Samuel Roller. Mit 22 Jahren wurde er Lehrer an der Ecole expérimentale du Mail in Genf, mit 33 Jahren Doktor im heute untergegangenen Fach experimentelle Pädagogik und mit 43 Jahren Professor der Erziehungswissenschaften an der Universität Lausanne. Mit dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget leitete er sieben Jahre lang das Institut des sciences de l’éducation. Was ihn interessierte, war die Frage, woher bei den Schülern welche Fehler kommen; wo die Schwierigkeiten liegen; wie man helfen könnte.

 

Samuel Roller gewann dabei an Statur. Nachdem sein erster Auftritt als Lehrer (eine Stellvertretung mit 18 Jahren) mit einem Desaster geendet hatte, merkte er, dass es vor einer Klasse nicht genügt, lieb zu sein und das Gute zu wollen. „Es braucht auch“, erklärt er im Film, „Autorität. Aber keine weiche, sondern eine harte, an der sich die jungen Menschen reiben können. So lernen sie, sich in die Hand zu bekommen. Nur wer sich in der Hand hat, kann sich selber werden. Da liegt das Ziel der Erziehung und des Lebens.“

 

So aktuell das ist, was Samuel Roller vor vierzig Jahren den „Plans Fixes“ anvertraute – noch aktueller sind die Gedanken des Basler Erziehungs­philosophen Paul Häberlin, die vor sechzig Jahren im Druck erschienen:

 

Es ist nicht gut, wenn wir uns so wichtig oder so tragisch nehmen, dass wir nicht aus der Selbstbespiegelung herauskommen, sondern stets nur daran denken, was wir seien, wie wir seien – oder vielleicht nur, welchen Eindruck wir nach aussen hin machen. Die Beschäftigung mit sich selbst ist doch in der Regel ein Stück Eitelkeit und Wichtigtuerei.

 

Wer das Leben so versteht, der fügt sich einfach vertrauensvoll in seine Bestimmung, welche in seiner so oder so gearteten und immer beschränkten Existenz gegeben ist. Er protestiert nicht gegen seine Mission, er will es nicht besser verstehen als der, aus dem alles Leben stammt. Er weiss, dass der Sinn des Lebens ist: nach Massgabe seiner besondern Anlage und seiner Kräfte für das Reich des Guten zu arbeiten, ohne den in gewissem Sinne eitlen Anspruch, für sich selber vollkommen zu sein.

 

Wer diese Einsicht besitzt, hat aller Voraussicht nach das Zeug zum guten Lehrer.

 

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