Benjamin Romieux: Journalist – ehemaliger Ressortchef Information des welschen Radios.

Das 1. März 1914 – 3. März 1988.

 

Aufgenommen am 19. März 1987 in Lausanne.

Benjamin Romieux – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Die wunderbare Aufnahme macht erlebbar, was Radio ist: Übermittlung, ja zuweilen gar Schaffung der Welt durch das gesprochene Wort. Mit 24, ein Jahr vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, trat Benjamin Romieux ins Studio Lausanne ein und wirkte dort vierzig Jahre. Sie waren so reich wie das Leben selbst. Als Mann des Wortes gibt Benjamin Romieux seinen Erinnerungen dermassen Farbe, Schwung und Feuer, dass man am Ende meint, man sei dabeigewesen, als die packendsten Sendungen entstanden und auf Mittelwelle von Sottens aus in den Äther gingen. <

 

Wenn man Benjamin Romieux vor der Bücherwand in seiner Stube von früher erzählen hört, als das Radio unter dem Titel „La pièce du mardi“ jeden Dienstagabend Hörspiele live ins Land schickte, kann man unversehens nachvollziehen, welche Rolle in Antike und Mittelalter die Barden spielten, welche Geschichten aus alter Zeit vortrugen und alle, die im Kreis sassen, aus der Gegenwart wegführten und zum Träumen brachten.

 

Wie Pfarrer und Lehrer, Schüler und Gläubige wissen, ist das Talent nicht jedem vergönnt. Es sind nur die Begabten, die mit gesprochenem Wort die Menschen zu bannen verstehen. Im Wallis hiessen sie „die Erzähler“ (les raconteurs). Noch bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts drängte die Stille nach Sonnenuntergang die Menschen in den hochgelegenen Dörfern zusammen: „Wir waren alle im selben Raum, brachten etwas zum Verzehren mit, und die Alten begannen zu erzählen: von Ereignissen in der Vergangenheit und von Wiedergängern.“ So beschreibt > René-Pierre Bille die Abendsitze (veillées).

 

In den „Plans Fixes“ macht Benjamin Romieux vor, wie der Erzähler vorgeht: Er nimmt die Hörer an der Hand und stellt sie vor eine Situation. In seinem Fall handelt es sich um das neue, blitzblanke Radiostudio Lausanne auf der Höhe von La Sallaz. Als junger Journalist führt er uns durch die Korridore. Dann beginnt er in einem Wiedergaberaum zu arbeiten.

 

Wir sehen: Damit eine Erzählung gelingt, oder sagen wir zutreffender: ankommt, muss ein Akt gegenseitiger Zu­wendung erfolgen. Der Erzähler muss dem Hörer „etwas bieten“, das heisst: mit der Relation von Vorgefallenem Freude machen wollen. Dafür steht er mit seiner ganzen Person beim Reden ein. Er stellt also nicht nur eine Sache dar, sondern auch sich selbst und sein Verhältnis zu ihr. – Wer sich für sein Ich schämt oder innerlich nicht lebendig ist, kann nicht erzählen. Auf der anderen Seite kann sich der Erzähler nur öffnen, wenn er die Zuwendung des Hörers spürt. Das Interesse des Empfängers ermöglicht erst den Strom der Rede. Erlischt das Interesse infolge schwach entwickelter Auf­nahme-, Konzentrations- oder Ein­füh­lungs­gabe, versiegt die Erzählung.

 

Wir erkennen daran, was für eine Bildung die langen Sonntagnach­mit­tage auf dem Land ermöglicht haben. Man sitzt auf der Laube und hat die Hände im Schoss gefaltet. Wenn ein Bekannter vorbeikommt, wird gegrüsst: „Wie geht’s?“ Geschehen ist nichts. Hinter allen liegt eine Woche wie jede andere. Und doch gibt es, genau besehen, enorm viel zu berichten. Man will den Hörer nicht enttäuschen und hat deshalb gelernt, durch Entwicklung von Erzählkunst das Interesse am Unbe­deutenden und Alltäglichen hervor­zu­rufen. – Die Generation unserer Urgrosseltern verdankte mithin ihr Erzähltalent der Schule, die das sonntägliche „Löibli“ bildete. Wahr­haftig, Peter Bichsel hatte recht: „Die Kultur entstand aus der Lange­weile.“

 

Im Abhörraum geht jetzt die Tür auf, und ein elegant gekleideter Mittdreissiger tritt ans Pult: „Was machen Sie da?“ „Ich schneide ‚Les échos de la vie romande‘.“ „Ich kenne die Sendung. Man könnte sie besser machen.“ „Das gab mir zu denken“, berichtet Benjamin Romieux.

 

Der Mann, der vor dem jungen Mitarbeiter aufgetaucht war, hiess Marcel Bezençon. Er war der neugewählte Direktor von Radio Lausanne. Später wurde er Generaldirektor der schweizerischen Rundspruchgesellschaft SRG und der Union européenne de radio-télévision UER.

 

Benjamin Romieux spricht mit Bewunderung vom Chef, der den Sender prägte: „Er erkannte, welche Rolle im Krieg das Radio für die Bevölkerung spielte.“ Er formulierte das Konzept: Wer nach des Tages Müh und Plage den Sender einschaltet, soll aufatmen und einen Moment lang lachen können. Das führte zu den humoristischen Sendungen mit > Jane Savigny. Man sollte aber auch einen Moment lang weinen können. Das führte zu den grossen Hörspielen mit Bearbeitungen von Weltliteratur, die häufig Benjamin Romieux vornahm und in denen > Paul Vallotton mitwirkte. Bei dieser Gelegenheit kam der Radiomann mit der Schauspielerin Jane Rosier zusammen, die er zwanzig Jahre später heiratete.

 

Wie Dickens bei seinen Romanen braucht Romieux nur wenige Striche, um eine Situation in Erscheinung treten zu lassen. Mit lebendiger Rede ruft er die Entstehung des Radioepos „Christophe Colomb“ herauf. Arthur Honegger hat die Musik komponiert. Jetzt sitzt er still auf einem Stuhl. Zur Feier der Stunde haben sich die Mitwirkenden in Abendgarderobe gekleidet. Ernest Ansermet mit seinem assyrischen Bart steht vor dem Orchester. Ein Sprechchor wirkt mit, und ein Erzähler. Benjamin Romieux kann dessen Eingangsworte noch auswendig. „Und Sie“, wendet er sich an Bertil Galland, den Gesprächspartner, „Sie mussten ‚du pain, du pain!‘ rufen. Erinnern Sie sich? Für diesen Satz hat William Aguet zwei Stunden lang mit Ihnen geprobt. Er war am Radio die treibende Kraft.“

 

Wie Dickens und alle grossen Erzähler liebt Benjamin Romieux seine Figuren. Kein Kollegenneid durchsäuert seine Ausführungen. Und wenn er von seiner Begegnung mit Albert Schweitzer berichtet, wird die Wiedergabe zum Anthologiestück: „Der grosse, scheue Doktor las die Antworten auf meine Interviewfragen aus einem Schulheft ab, stellen Sie sich vor!“

 

Ein Sendetitel nach dem andern taucht auf, mit den Umständen seiner Entstehung und den beteiligten Menschen. Auf diese Weise ziehen vierzig Radiojahre in einer interessanten, farbigen Stunde vor dem inneren Auge vorbei. Der Reichtum von Benjamin Romieux’ Ausführungen weckt nur ein Bedauern: Dass wir das Rad der Zeit nicht zurückdrehen können. Was damals in den Äther ging, ist, wie die deutschen Radioleute sagten, „weggesendet“. „Wir haben eben den ökologischsten Betrieb“, erklärte Arthur Godel, der frühere Chef des Kultursenders DRS-2, „und produzieren keine Abfälle.“

 

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