Etienne Barilier: Die Schrift, unbedingt.

11. Oktober 1947 –

 

Aufgenommen am 28. Oktober 2024 in Pully.

Étienne Barilier – Association Films Plans-Fixes

 

> Kurz nach dem 77. Geburtstag empfängt Etienne Barilier das Kamerateam der „Plans Fixes“ in seiner Wohnung. Vor drei Jahren ist seine Frau Monique verschieden. Bis er sie mit dreissig kennenlernte, sagt er, „wusste ich nicht, was Glück ist.“ Zu ihrem Gedenken öffnet er sich jetzt und spricht über seine Bücher. <

 

In Etienne Bariliers Leben bildet das Schreiben das Beständige. Er nahm es auf, sobald er die Buchstaben kannte. Eine Rolle spielte das Vorbild des Vaters. „Nur selten fehlt bei Jungen eine zeitweise Nachahmung väterlichen Berufs“ (Heimito von Doderer). Als protestantischer Pfarrer war Roger Barilier Diener des göttlichen Worts: verbi divini minister VDM. Und Diener des Worts – allerdings des literarischen – wurde nun auch der Sohn.

 

Etiennes erstes gültiges Manuskript hiess „Orphée“, gleich wie der erste Sänger der mythischen Antike. Noch vor dem 20. Altersjahr war es druckfertig, und im 24. erschien es beim Lausanner Verlag L’Age d’Homme. Ein Vierteljahrhundert dauerte die Zusammenarbeit mit dem Lektor > Claude Frochaux, dann wechselte der Autor mit 48 zu den Éditions ZOÉ der Genfer Verlegerin > Marlyse Pietri.

 

Viel Konkretes vernimmt man aus dem Film nicht. Jacques Poget, der Interviewer, gibt zwar einen Überblick über Etienne Bariliers verschiedene Schaffensbereiche, doch bleibt das Gespräch, wie bei den meisten Künstlerporträts der „Plans Fixes“, summarisch. Die Frauen sind auskunftsfreudiger. > Mireille Kuttel, > Anne-Lise Grobéty und > Catherine Louis lassen den Betrachter an der Entstehung ihrer Werke teilhaben – wie auch der Schauspieler > Hugues Aufair. Etienne Barilier aber bleibt im Allgemeinen. Und was seine Kindheit, seine Person und seine Ehe betrifft, bleibt er ganz verschlossen.

 

Hervor tritt nur, dass Etienne Bariliers Existenzform das Schreiben ist. Schreibend durchwandert er das Leben, schreibend bemächtigt er sich der Welt. Den Hauptteil des finanziellen Einkommens bildeten Übersetzungen. Daneben entstanden in gleichem Umfang „Essays“, das heisst „Werke des Intellekts“, und Romane, das heisst „Werke der Phantasie und der Emotionalität“. Über siebzig Titel sind so zustandegekommen.

 

Etienne Barilier erschloss sich und der französischsprachigen Leserschaft das Lichtenbergsche Universum durch Übersetzung der „Sudelbücher“. Daneben brachte er so Unterschiedliches zur Darstellung wie die Musik von Alban Berg, das Gastmahl von Plato, das Schaffen von Alberto Giacometti und Francesco Borromini, das Denken von Leonhard Euler, Albert Einstein, Jacob Burckhardt und Johann Jakob Bachofen, das Tennisspiel von Martina Hingis und die Schicksalsmomente historischer Gestalter im besetzten Khartum und im besetzten Paris.

 

Unsere Kontemplation ist aber nicht nur ein Recht und eine Pflicht, sondern zugleich ein hohes Bedürfnis; sie ist unsere Freiheit mitten im Bewusstsein der enormen allgemeinen Gebundenheit und des Stromes der Notwendigkeiten.

(Jacob Burckhardt.)

 

So besteht das Leben der Intellektuellen im Lesen, Nachdenken und Einfühlen. Beim Formulieren werden sie überrascht, wohin sie der Fluss der Worte trägt.

 

Nur im Schreiben fühl’ ich mich zu Haus

 

Ich ringe nie um Worte, sondern schreibe flüssig drauflos.

Wenn ich dann im Wald spazierengehe, fällt mir das Wort, das nicht stimmt, auf den Kopf. Zu Hause angekommen, wird das Wort ausgewechselt. Wenn man anfängt zu schreiben, hört es nicht mehr auf. Es bleibt im Kopf, am Tag und in der Nacht. Ich möchte ein Loblied auf die Schlaflosigkeit anstimmen. Wenn man so drei Stunden wach liegt, denkt man hin … Und am Morgen, wenn ich beginne, ist es schon geschrieben.

 

Eine Zeitlang war ich ohne festen Wohnsitz. Ich wollte aber nicht ohne Schreiben sein, so fing ich an, mit Bleistift zu schreiben. Seitdem schreibe ich ausschliesslich mit der Hand.

(Peter Handke.)

 

Dieses Zimmer ist meine Welt. Ich arbeite hier, ich schlafe hier und nehme zum Teil auch meine kärglichen Mahlzeiten hier ein, also ein Frühstück und eine Päckchensuppe zu Mittag. Hier schreibe ich schon über vierzig Jahre. Vor allem brauche ich meine Maschine und absolute Ruhe. Ich kann auch seit Jahren nur in diesem Thonetsessel mit den Armstützen schreiben. Wenn ich gedanklich irgendeiner Spur folge, vielleicht einer Gefühlsspur, lehne ich mich zurück und stütze meine Arme auf – und da ist dieser Sessel genau richtig.

(Friederike Mayröcker.)

 

Es ist aber wahr, dass ich nur hier, an meinem Tisch, vor den Blättern der Bäume, deren Bewegung mich seit zwanzig Jahren erregt, ich selber bin, nur hier ist dieses Gefühl, meine schrecklich wunderbare Sicherheit intakt, und vielleicht muss ich sie haben, um nicht vor dem Tod die Waffen zu strecken.

(Elias Canetti.)

 

Wo sich Etienne Barilier befindet, wenn er schreibt, wie er vorgeht, ob er wie Handke einen Bleistift, wie Grtobéty eine Feder, wie Kuttel einen Kugelschreiber oder wie Mayröcker eine Maschine braucht, kommt aus dem Gespräch nicht hervor. Sympathisch und bescheiden macht er wenig Aufhebens von seiner Person. Als Schriftsteller ist er introvertiert. Sein Innerstes gibt er nicht so schnell preis. Seine Gedanken und Gefühle sind im Gedruckten zu finden, nicht im Gefilmten.

 

Es gibt wenig Menschen, die nicht im gemeinen Leben unvermerkt über das hinausgehen, was sie verstehen, der vernünftige Mann freilich tut es entweder nie oder doch nicht da, wo man Ernst von ihm verlangt; das gemeine Volk aber jeden Augenblick, und selbst so wie schlechte Schriftsteller sich oft am klügsten dünken, wenn sie in Worten reden, die sie nicht verstehen, eben so redet das gemeine Volk, oft allen Vernünftigen unverständlich, grade wenn es gut reden will, und dies bloss, um das Vergnügen zu geniessen, einen Augenblick sich selbst weise und vornehm vorzukommen.

(Georg Christoph Lichtenberg.)

 

Etienne Barilier gehört nicht zu dieser Sorte von Leuten. Das tritt aus dem Gespräch mit ihm deutlich hervor.

 

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