Jacques Gasser: Psychiater und Historiker. Verstehen und befragen.

28. März 1956 –

 

Aufgenommen am 12. März 2021 in Mathod.

Jacques Gasser – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> „Nicht sendefähig.“ Bei einer Fernsehanstalt käme das Portrait von Jacques Gasser nicht zur Ausstrahlung. Aber nicht wegen umstrittenem Inhalt, sondern wegen erschütternder Substanzlosigkeit. Die Fehler liegen auf beiden Seiten: Der Gefilmte kommt nicht aus sich heraus. Das ist bei Psychiatern oft der Fall, zumal wenn sie ausserdem noch die Würde eines Professors und Klinikleiters bekleiden. Da halten sie sich gern bedeckt und lassen sich nicht in die Karten schauen. Dass es der Befrager mit einem solchen Partner schwer hat, liegt auf der Hand. Für eine gute Begegnung braucht es eine überdurchschnittlich hohe Portion an Handwerk, Geist, Stärke und Hartnäckigkeit. Wenn aber diese Qualitäten fehlen, zerrinnt das Gespräch zu lauwarmem, unerheblichem Geplätscher. <

 

Die unprofessionelle Reaktionsarmut des Befragers Stéphane Gabloud zeigt sich schon daran, dass er vom wenigen, das der Porträtierte fallen lässt, keinen Gebrauch macht. Im Vorspann erwähnt Jacques Gasser, bei ihm habe sich Höhenschwindel eingestellt, nachdem er Kinder bekommen habe. Ein begabter Interviewer würde nun allein aus dem Wort „Höhenschwindel“ zehn substanzreiche Minuten ziehen. Er brauchte dafür nur nachzuhaken, indem er die allgemeine Aussage aufs Konkrete zurückführte.

 

Für ein ergiebiges Gespräch darf der Befrager die Aufgabe nicht vernachlässigen, die journalistischen Basisinformationen zu liefern. Von Kindern spricht Jacques Gasser. Wie viele sind es? Wie kamen sie zur Familie? Aus einer Ehe, aus mehreren? Wir vernehmen es nicht. Wie anders – das heisst tiefer, lebendiger – berichtet der gleichaltrige > Gérard Forster von sich und seiner Familie! Aber eben, er ist bloss Gewerkschafter, nicht Klinikleiter und Psychiatrieprofessor … Am Ende des Gesprächs erwähnt Jacques Gasser seine fünf Grosskinder. Was für Folgerungen sollen wir aus der Information ziehen?

 

Bis zur letzten Minute bringt der Film Aussagen, mit denen wir mangels Vorwissen nichts anfangen können. Der Interviewer aber unterstellt, dass alles, was Jacques Gasser ausmacht, bekannt sei. Mit dieser methodischen Unterstellung bleibt es ihm erspart, den Befragten zu bedrängen. Jacques Gasser braucht nicht deutlich zu werden. Und damit realisiert das Gespräch, was beiden das Wichtigste ist: Sich nicht auf die Äste hinauslassen! Nett zueinander sein. Das Konkrete unfasslich machen. Hinter Dunst einnebeln.

 

Mit dieser Gesprächsanlage kann sich Professor Gasser jetzt ausbreiten über jenes hochinteressante Thema, das mit seiner überzeitlichen Relevanz jedem ins Auge springt: Wie sich die Organisation der psychiatrischen Dienste im Kanton Waadt im Lauf der letzten sechzig Jahre verändert hat! Die Geschichte reicht von den vier regionalen Zentren unter> Prof. Müller bis zu ihrer Zusammenlegung im kantonalen Universitätsspital CHUV unter Prof. Gasser. Man sieht: Die Passage hat die gleiche Attraktivität wie die Vorführung des Organigramms an einem Besuchstag für Studieninteressenten.

 

Dass es der Arzt mit Menschen zu tun hat, kommt während des ganzen Gesprächs mit keiner Silbe zu Wort. Also auch nicht, wie die Menschen auf den Arzt einwirken und der Arzt auf die Menschen. Es geht bloss um die allgemein bekannten Fragen der Zurechnungsfähigkeit von Angeklagten im Strafprozess, und es geht ums Wissenschaftsmanagement. Mehr nicht. Natürlich befasst sich der Film auch mit dem Werdegang von Jacques Gasser von der Kindheit bis zur Pensionierung: Was vorher war und was später kam. Der Professor macht Andeutungen: Ihn interessierte, wie sich in der Psychiatrie vom 19. zum 20. Jahrhundert der Begriff und das Konzept der Erinnerung veränderten. Daraus entstand seine wissenschaftsgeschichtliche Dissertation. Am liebsten möchte man den Interviewer schubsen: „Frag ihn doch, was für Einsichten er dabei bekam!“

 

Für seine Forschung erhielt Jacques Gasser als erster die Aufzeichnungen des französischen Neurologen Jean Martin Charcot (1825-1872) in die Hand. Wie sahen sie aus? Was fiel Gasser auf? Da die Frage nicht gestellt wird, gibt es keine Antwort. – Charcot erlangte als Leiter der Klinik für Nervenkrankheiten, dem „Hospice de la Salpêtrière“, internationales Ansehen. Bei ihm studierte Sigmund Freud als Postdoc seelische Erkrankungen ohne organischen Befund (Hysterien), und er verfolgte deren Behandlung durch Suggestion und Hypnose; Methoden, die er dann für seine Patienten in Wien übernahm, bis er die Erinnerung ins Zentrum seiner Therapie setzte.

 

Charcot, der einer der grössten Ärzte, ein genial nüchterner Mensch ist, reisst meine Ansichten und Absichten einfach um. Nach manchen Vorlesungen gehe ich fort wie aus Notre-Dame, mit neuen Empfindungen vom Vollkommenen. Aber er greift mich an; wenn ich von ihm weggehe, habe ich gar keine Lust mehr, meine eigenen dummen Sachen zu machen. (Sigmund Freud an seine Braut.)

 

Es gehört zu den Professoren-Porträts der „Plans Fixes“, dass die Gelehrten vor dem Hintergrund ihrer Bücher gefilmt werden wie etwa >Pierre-Olivier Walzer, > Denis de Rougemont, > François Billeter, > Georges Nivat – und Jacques Gasser. Dessen hohe Bibliothek, deren obere Regale man nur über eine Leiter erreicht, erinnert an das Vorbild Charcot. Freud hat es der Braut beschrieben:

 

Ich will nur nachtragen, wie es in seinem Studierzimmer aussieht. Dasselbe ist so gross wie unsere ganze zukünftige Wohnung, ein Stück, des ganzen Zauberschlosses, in dem er wohnt, würdig. Es zerfällt in zwei Abteilungen, von denen die grössere der Wissenschaft, die kleinere der Gemütlichkeit gewidmet ist. Zwei leichte Vorsprünge in der Wand trennen die beiden ab. Wenn man durch die Türe eintritt, sieht man zunächst durch ein grosses dreigeteiltes Fenster, dessen Scheiben von Glasmalereien unterbrochen sind, auf den Garten. Längs der beiden Seitenwände der grösseren Abteilung steht die riesige Bibliothek in zwei Stöcken, zum zweiten Stockwerk führen auf beiden Seiten Treppen. In der hinteren Abteilung Kamin, Tisch und Kästen mit Antiquitäten indischer, chinesischer Herkunft, die Wände mit Gobelins und Bildern bedeckt. Soweit man sie frei sieht, zeigen sie einen antik roten Anstrich. Was ich von anderen Zimmern am Sonntag flüchtig sah, enthält dieselbe Verschwendung von Bildern, Gobelins, Teppichen und Kuriositäten, mit einem Wort ein Museum.

 

Dazu der „Campus-Knigge“:

 

Die Privatbibliothek ist eine Selbstinszenierung der eigenen Gelehrsamkeit. Als papiergewordener Ausweis der eigenen Belesenheit soll sie vom intellektuellen Geschmack zeugen und laviert doch wie alles Verdinglichte immer entlang der Grenze zum Vulgären.

 

Nach dem Tod des Gelehrten bleiben die Bücher zurück; die Hoffnung zu Lebzeiten, sie möchten nach dem Dahinscheiden seinen Ruhm und sein Ansehen dinglich repräsentieren, wird sich in ihr Gegenteil verkehren. Den Gelehrtenwitwen und den anderen Hinterbliebenen ist die Masse des staubigen Papiers eine Last, über die sie beschämt klagen. Der Antiquar macht nur lächerlich geringe Angebote. Die angefragten Bibliotheken nehmen von einem Kauf Abstand. Selbst wenn sie Geld hätten, sie bräuchten die Doubletten nicht. Sie sagen das am Telefon und ohne den Bestand anzusehen. Ob man nicht die Bibliothek als ganze erhalten könnte, fragen die Erben, selbst um den Preis einer Schenkung ans Institut? Die Bibliothekarin winkt müde ab und verzieht einen Mundwinkel. So bedeutend war der Verstorbene als Forscher doch eher nicht.

 

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