Dr. Claude Verdan: Professor der chirurgischen Poliklinik, Handchirurg.

21. September 1909 – 7. August 2006.

 

Aufgenommen am 10. Oktober 1986 in Cully.

Dr Claude Verdan – Association Films Plans-Fixes (plansfixes.ch)

 

> Claude Verdan kann auf 350 Publikationen zurückblicken; darunter ein Lehrbuch, das alle jungen Ärzte benützt haben. Im Militär hat er es zum höchsten Grad gebracht, der einem Zivilisten erreichbar ist: Oberst. Daneben wurde er Professor an der Universität Lausanne, Direktor der chirurgischen Poliklinik des Lausanner Universitätsspitals, Besitzer der Privatklinik La Longeraie und Gründer des Handmuseums an der Universität Lausanne. Er schaffte es als Pionier der Handchirurgie ins „historische Lexikon der Schweiz“. Doch das Beeindruckendste am Ganzen ist der Ort, an dem Claude Verdans Portät für die „Plans Fixes“ entsteht: Ein herrschaftliches Anwesen am oberen Ufer des Genfersees (Haut-Lac). <

 

Die Aufnahme beginnt im Salon. Die Vorhänge sind zurückgezogen. Man blickt auf eine Palisade von runden Holzpfählen; wahrscheinlich die Abgrenzung zu einem Strässchen oder zum Nachbargrundstück. Der untere Teil der Fenster ist so gestaltet, dass Aussenstehende keinen Einblick ins Innere haben. Claude Verdan wohnt an einem Ort, von dem gewöhnliche Sterbliche nur träumen können.

 

Nach der ersten Filmrolle wird die Aufnahme im Freien fortgesetzt. Der Starchirurg lehnt sich, umflossen von einem eleganten Umhang, an die Säule der Pergola. Interviewer Bertil Galland sitzt auf breiter, gemauerter Brüstung, hinter der sich der Genfersee mit kleinen, lieblichen Wellen bis zu den Savoyer Alpen hin ausdehnt. Um den Damm der privaten Anlegestelle bewegt sich ein quakendes Entenpaar.

 

Doch der Friede wird gestört durch ein Flugzeug. Je näher es kommt, desto lauter wird sein Motorenlärm. Bertil Galland zuckt unmerklich zusammen und erstarrt. Für Radio und Fernsehen würde er jetzt die Aufnahme unterbrechen. Aber das Konzept der „Plans Fixes“ erlaubt das nicht. Der Vorspann sagt: „Ein Gespräch aufgenommen ohne Wiederholung und Schnitt.“ Aus diesem Grund hat sich das Privatflugzeug, das am 10. Oktober 1986 über Cully flog, zusammen mit dem Entenpaar, das um Professor Verdans Mole schwamm, im Film über den Pionier der Handchirurgie verewigt.

 

Claude Verdan erzählt seinen Werdegang. Wie es bei den Persönlichkeiten, die es in die „Plans Fixes“ schafften, die Regel ist (zum Beispiel beim angesehenen Leiter des Lausanner Universitätsspitals CHUV, Prof. Dr. med. > François Leyvraz), hat sich die Karriere mit beeindruckender Folgerichtigkeit entwickelt. Schaut man aber genauer hin, zeigt sich: Die Folgerichtigkeit ist ein Effekt des Vortrags. Verdan und Leyvraz sind gute Erzähler – und damit auch gute Lehrer. Es ist ihnen gegeben, Dinge in eine solche Ordnung bringen, dass sich beim Reden eins aus dem andern entwickelt. Beim Hörer weckt das den Eindruck von Kausalität: „Ah, darum!“

 

Die Folgerichtigkeit ist also das Produkt einer ordnenden Intelligenz. Darin liegt ihre Leistung. Sie bringt Zusammenhang in die Welt, und zwar überall: In die abstrakten Grössen, die Erlebnisse und Begriffe – und selbstver­­ständlch auch in die Fakten des Lebens, seine Ereignisse und Zufälle. Womit auch immer sich eine ordnende Intelligenz auseinandersetzt – es wird ihr zum Segen. Sie erkennt beim Nachdenken, dass alles, was sich ereignet hat, für etwas gut war.

 

Anders verhält es sich demgegenüber für Menschen, die mit schwacher Gestaltungs­kraft zur Welt kamen. Sie werden durch das Unerwartete aus der Bahn geworfen und geben dem Mantra, dem Zufall, den Neidern, den Feinden oder den Sternen schuld, dass sie das Gewünschte nicht erreicht haben. (Wie schicksalshaft die Dinge am Ende sind, zeigen die Porträts der Bergführerin > Nicole Niquille und des Läufers > Pierre Delèze.)

 

> Graziella de Coulon zitiert ein afrikanisches Sprichwort: „Kein Fluss läuft schnurgerade ins Meer.“ Nach dem vierten Schuljahr kam Claude Verdan nach Aarau. Auf Geheiss des Vaters musste er das famose Deutschschweizerjahr absolvieren, gleich wie der spätere Regierungsstatthalter des Distrikts Rolle, > Albert Munier, der Schriftsteller > Hughes Richard und der Ständerats­präsident > Charles-Frédéric Fauquex.

 

Am fremden Ort war Claude Vaucher anfänglich „dr Wälsch“. Doch er lernte, sich durchzusetzen. Dabei wuchs die Achtung unter den Buben gegenseitig. Claude erwarb den Aargauer Dialekt. Er kam ihm später im Militär gewaltig zugut, gleich wie die kulturübergreifenden Freundschaften, die er in der Bubenzeit geknüpft hatte.

 

Zu einem weiteren Knick im Karriereverlauf führte die Heirat mit Sylvia Malan. Jetzt musste Claude Verdan für eine Familie aufkommen, statt sich der Wissenschaft zu widmen. Der junge Arzt liess sich von der Suva anstellen und wurde Funktionär. Tausende von Beitragsgesuchen liefen über sein Pult. Rückblickend sagt er: „Man muss Demut lernen, wenn man Grosses leisten will.“

 

Da liegt der Witz. „Reculer pour mieux sauter“, sagen die Welschen: Um in die Höhe zu springen, muss man ein paar Schritte zurückmachen. Claude Verdan lernte an der Suva das Krankenversicherungsrecht aus dem Effeff. Er erkannte, wie Gesundheitswesen und Politik ineinander verknüpft sind. Und ihm trat vors Auge, welche Defizite die Heilkunst aufwies.

 

Die häufigsten Verletzungen bei Arbeitsunfällen betrafen die Hand. Aber eine Handchirurgie gab es in der Schweiz nicht. Von den Meistern des Skalpells wurde das Greiforgan als minderwertig belächelt. So entdeckte Claude Verdan eine neue Kausalität: Wer den Gebrauch der Hände zurückbekommt, findet Anschluss an die Gesellschaft und das Arbeitsleben. Das gibt ihm Optimismus, Achtung, Zufriedenheit.

 

Aber der Weg ist steinig. Um Pionier zu werden, muss man die Kraft haben, die Tabus, Verhinderungen und Denksperren beiseitezuschieben. Folge­richtig rief der Frühaufklärer Christian Thomasius (1655 bis 1728) dem Leser zu: „Miste vor allen Dingen deinen Verstand aus! Lege die Verhinderungen [= Tabus] weg!“

 

Thomasius war selbst ein Pionier: Als erster Professor hielt er Vorlesung auf Deutsch und nicht auf Lateinisch. Das führte in Leipzig zum Entzug der Lehrerlaubnis. Später legte Thomasius dar, dass das Hexentum nicht nur – wie vorher schon geschehen – unbeweisbar, sondern faktisch unmöglich sei. Die Folgen der Abhandlung „De crimine magiae“ (1701) waren ähnlich segensreich wie das Votum gegen die Folter: „Die Folter ist unchristlich!“ (1705). (De tortura ex fortis Christianorum proscribenda).

 

Zu einer Zeit, als man sie als „reine Kosmetik“ schlechtredete, begann Claude Verdan, ästhetische Chirurgie zu praktizieren: „Ich entfernte die verschrumpelte Haut der Brandwunden und ersetzte sich durch neues, transplantiertes Gewebe. Schliesslich sind die Hände und das Gesicht der einzige Körperteil, den wir immer unbedeckt zeigen.“

 

Claude Verdan erfand Operationsmethoden, die den Fingern Beweglich­keit und Gefühl wiedergaben. Er gründete er eine eigene Klinik, La Longeraie, um ungehindert neue Wege erpoben zu können. Und siehe, es ging nicht lange, da kam sein Institut in den USA auf die Liste der Ausbildungsstätten, und danach suchten unzählige junge amerikanische Ärzte den Genfersee auf, um beim Pionier der Handchirurgie das Handwerk zu lernen.

 

Wer heute dank der Kamera der „Plans Fixes“ Einblick in Claude Verdans Anwesen bekommt, wo das Entenpaar um die Privatmole schwimmt und sich die lieblichen kleinen Wellen des oberen Genfersees bis zu den Savoyer Alpen hin ausdehnen, gibt am Ende der Begegnung neidlos zu: „Mit dieser Lebens­leistung ist das Paradies verdient!“

 

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